Konjunktur in der Kunststoffbranche: 45. Umfrage KI Dialog

„Die Krise hat gerade erst begonnen“ / Weiterhin düstere Stimmung in der Branche / Mehrheit der Unternehmen erwartet Besserung frühestens 2024 / Kritik an Politik und Regularien

Unsicherheit, Krise – und kein Ende. Seit mehr als dreieinhalb Jahren hat die deutsche Kunststoffindustrie wenig Anlass zu Optimismus. Wer gedacht hatte, nach der ausgestandenen Corona-Pandemie und einer Art Gewöhnung an den mörderischen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine werde so etwas wie Stabilität in den Unternehmensalltag einkehren und die Geschäfte würden wieder anziehen, sieht sich beim Blick auf die Ergebnisse der 45. Konjunkturumfrage im Rahmen des „KI Dialog“ enttäuscht. Das Gegenteil ist der Fall: Selten zuvor in der mehr als 20-jährigen Geschichte unserer Konjunkturumfrage schauten die Teilnehmer mit derartigem Pessimismus auf ihre aktuelle Situation – und in die Zukunft.

Mit 61 Prozent gibt eine übergroße Mehrheit der insgesamt fast 500 teilnehmenden Unternehmen an, dass sich ihr Geschäft im ersten Halbjahr 2023 gegenüber dem zweiten Halbjahr 2022 verschlechtert habe. Nur jedes vierte bezeichnet seine Entwicklung als „stabil“.
Die Dramatik dieser Zahlen zeigt sich beim Blick auf die historischen Zeitreihen. Denn dabei wird deutlich: Seit dem Sommer 2021 kennt die Konjunktur in der deutschen Kunststoffindustrie nur eine Richtung – nach unten. Sogar zu Hochzeiten der Corona-Pandemie 2021 bewerteten immerhin 15 Prozent der Unternehmen die Entwicklung gegenüber dem Vorhalbjahr als „besser“. Heute ist dieser Anteil auf 13,7 Prozent abgesackt.

Überproportional schlecht schneiden bei der retrospektiven Betrachtung der Geschäftsentwicklung die Inlandsaktivitäten ab: 62 Prozent der Befragten geben an, das Geschäft innerhalb Deutschlands habe sich im Jahr 2023 gegenüber dem Schlusshalbjahr 2022 bislang verschlechtert. Der Export innerhalb der EU hat indes „nur“ bei 54,3 Prozent der Unternehmen nachgegeben, und bei den Geschäften mit dem Rest der Welt beklagt nur rund die Hälfte der Unternehmen (50,2 Prozent), dass es schlechter geworden sei.

„Die Krise hat gerade erst begonnen. Wir waren in der glücklichen Lage, bis jetzt keine Einbußen hinnehmen zu müssen, aber seit April ist die Nachfrage rapide gesunken.“ – Zitat eines Teilnehmers

Bevor wir zu den Erwartungen der Unternehmen fürs zweite Halbjahr 2023 kommen, bleiben wir noch einen Moment beim rückblickenden Vergleich. Auf die einzelnen Branchenzweige heruntergebrochen fällt auf, dass gerade die Unternehmen aus dem Kunststoff-Recycling einen Rückgang ihres Geschäfts beklagen: Bei fast 83 Prozent lief es im ersten Halbjahr 2023 schlechter als im Vorhalbjahr. Über die Ursachen hat Kunststoff Information regelmäßig berichtet: Wichtigster Grund ist ein exorbitanter Nachfrageeinbruch bei gewerblichen und privaten Verbrauchern. Hinzu kommen die Existenz gefährdenden Preiskämpfe mit der Neuware und zunehmende Importe von Recycling-Material. Zusätzlich ringen die Recycler mit hohen Energiekosten und Lohnabschlüssen sowie vollen Grundware-Lägern.

Deutlich weniger Geschäft, aber nicht in derart dramatischem Umfang, haben auch drei Viertel (77,4 Prozent) aller Händler von Kunststoffprodukten gemacht, gefolgt von den Kunststoffmaschinenbauern (72,7 Prozent) und Rohstoff-Distributeuren (71,7 Prozent).
Innerhalb der Gruppe der Kunststoffverarbeiter sind vor allem diejenigen von Geschäftseinbußen betroffen, die Produkte für die Baubranche (66 Prozent) sowie Rohre/Profile (73,7 Prozent) herstellen. Angesichts des vielfach berichteten Auftragseinbruchs im Bau können diese Zahlen nicht überraschen.

Eine andere Problembranche hält sich hingegen wacker: Von den Kunststoffverarbeitern, die ihr Geld vor allem mit dem Anwendermarkt Automotive verdienen, meldet nur ein knappes Viertel (24,1 Prozent) eine Verschlechterung. Exakt derselbe Prozentsatz freut sich sogar über eine Verbesserung der Geschäfte, und die Hälfte der Unternehmen (51,7 Prozent) arbeitet auf stabilem Niveau.

„Wenn der Wirtschaftsminister endlich anfinge, die Wirtschaft in Deutschland kompromisslos, das heißt ohne ideologische Scheuklappen, zu unterstützen, täte dies Deutschland und Europa sehr gut.“ – Zitat eines Teilnehmers.

So viel zur Beschreibung des Status Quo. Für die Stimmungslage in der Branche ist der Blick nach vorne allerdings wichtiger. Was erwarten (oder sollte man besser sagen: erhoffen) sich die Unternehmen vom kommenden halben Jahr? Und wann rechnen sie mit einer Verbesserung ihrer Situation? Vor einem halben Jahr hatten wir an dieser Stelle geschrieben, Unternehmertum habe etwas mit prinzipiellemOptimismus zu tun – und damit, den Silberstreif am Horizont sehen zu wollen.
Das klingt aktuell wie eine hohle Durchhalteparole. Denn segmentübergreifend befürchten dramatisch viele Unternehmen, dass die Talsohle noch nicht durchschritten sei und es noch weiter nach unten gehen werde. Fast 35 Prozent der Befragten rechnen damit, dass sich ihre Geschäfte im zweiten Halbjahr 2023 gegenüber den ersten sechs Monaten des Jahres nochmals verschlechtern werden.

„Im Handel herrscht ein extremer Preisdruck. Etliche unserer Kunden kaufen daher im europäischen Ausland günstiger ein. Während uns billigere Rohware aus dem Ausland überschwemmt, herrscht nach wie vor Rohstoffknappheit im Inland.“ – Zitat eines Teilnehmers

Nota bene: Mit einer Fortsetzung des Abwärtstrends rechnen überdurchschnittlich viele Unternehmen aus der Baubranche (50 Prozent) und dem Maschinenbau (55 Prozent). Knapp die Hälfte aller Befragten erwartet eine Stagnation auf dem derzeitigen Niveau, und nur rund 17 Prozent der Befragten prognostizieren eine Verbesserung. Beim KI Dialog Anfang des Jahres hatte noch gut jedes fünfte Unternehmen (22 Prozent) mit einer wirtschaftlichen Erholung gerechnet.

Besonders kleine Kunststoffverarbeiter mit bis zu 20 Mitarbeitern blicken pessimistisch in die Zukunft (57,1 Prozent). Nur zweimal in der Geschichte unserer Konjunkturumfrage waren die Erwartungen der Unternehmen an ihre Geschäftsentwicklung noch gedämpfter als derzeit: nämlich zur Finanzkrise 2008 (damals rechneten lediglich 10 Prozent der Befragten mit einer Verbesserung ihrer Lage binnen Halbjahresfrist) und bei der Umfrage unter dem unmittelbaren Eindruck des Ukrainekriegs im vergangenen Sommer (11,4 Prozent). Standardmäßig fragen wir die Unternehmen nach Veränderungen in ihrem Investitionsverhalten. Keine Änderung an ihren Budgets vorgenommen haben bislang 56 Prozent der Unternehmen. Angesichts der unsicheren wirtschaftlichen Gesamtperspektive darf das als gute Zahl gelten, die die grundsätzliche Langfristigkeit der Investitionsentscheidungen von Unternehmen unterstreicht. Jeder 20. Betrieb gibt sogar an, mehr investiert zu haben als ursprünglich geplant.
Gleichzeitig sagen aber auch 38 Prozent der Umfrageteilnehmer, dass sie ihre Investitionen zurückgefahren hätten. Auch hier zeigen die historischen Zeitreihen: Mehr Investitionen gestrichen haben die Unternehmen der Kunststoffindustrie bislang nur während der Finanzkrise 2008 und in Folge der Corona-Pandemie.

„Äußerst kritisch bewerten wir die Selbstverständlichkeit, mit der die Hersteller ihre Gewinne maximieren, langjährige Kunden etwa durch Produkt-Eliminierung hängen lassen (ohne jede Vorankündigung) und Preise wie im Wilden Westen durchdrücken, nach dem Motto ’Friss oder stirb!’“ – Zitat eines Teilnehmers

Zum Schluss noch ein Blick auf das Thema Personal: Bei 60 Prozent der Befragten ist die Beschäftigtenzahl im ersten Halbjahr 2023 gegenüber dem zweiten Halbjahr 2022 konstant geblieben. Bei jedem siebten Unternehmen ist sie sogar gestiegen. Doch ein Viertel aller Befragten (24 Prozent) meldet einen Rückgang beim Personal. Dabei bleibt unklar, ob es sich um einen gezielten Stellenabbau – also Entlassungen – handelt oder um natürliche Fluktuation. Was hingegen unstrittig sein dürfte (auch weil die Hälfte aller Unternehmen die Personalsuche als dringliche Herausforderung bezeichnet): Ein Teil des Rückgangs bei den Mitarbeiterzahlen wird dem allgemeinen Fachkräfte- und Nachwuchsmangel geschuldet sein.

Seit Sommer 2021, das zeigen die Zahlen des KI Dialog sehr deutlich, beschäftigt die Kunststoffindustrie immer weniger Leute. Allein durch einen höheren Automatisierungsgrad und Effizienzsteigerungsmaßnahmen lässt sich das nicht erklären. Dieser Trend dürfte an Fahrt gewinnen: Befragt nach den künftigen Veränderungen ihres Personalbestands im zweiten Halbjahr 2023 geben zwar sieben von zehn Unternehmen an, die Beschäftigtenzahl konstant halten zu wollen (17 Prozent rechnen mit einem Rückgang, und 13 Prozent mit einem Aufbau). Von den großen, exportstarken Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern plant hingegen jedes vierte einen Personalabbau in den nächsten sechs Monaten. Die angekündigten Massenentlassungen bei Konzernen wie BASF und Covestro dürften in diesem Größensegment also erst der Anfang gewesen sein.

„EU-Direktiven, die von Theoretikern erschaffen werden, die nicht vom Fach sind. Sie sollten den Punkt ’Bürokratismus in der EU’ als wichtigen Faktor in die nächste Umfrage mit aufnehmen.“ – Zitat eines Teilnehmers

Und wie geht’s weiter? Darüber herrscht in der Kunststoffindustrie ein großes Rätselraten. Gerade einmal 3 Prozent der Unternehmen rechnen mit einer wirtschaftlichen Normalisierung auf das Vorkrisenniveau noch in diesem Jahr. Knapp 30 Prozent erwarten die Erholung frühestens vom ersten Halbjahr 2024 an. Ein Viertel der Befragten ist noch vorsichtiger und prognostiziert die Rückkehr in den Normalzustand vom zweiten Halbjahr 2024 an. Die Mehrheit der Unternehmen ist mit der Beantwortung jedoch schlichtweg überfragt – und wagt sich erst gar nicht an eine Prognose Produktionsdrosselungen, um Energiekosten zu senken, ziehen nur 12,5 Prozent aller befragten Unternehmen in Betracht (mit 32 Prozent aber überdurchschnittlich viele Erzeuger). Und die Verlagerung seiner Produktion an einen kostengünstigeren Standort erscheint gar nur jedem 14. Betrieb als denkbare Option. Alle Lobbyisten und Scharfmacher aus Politik und Verbänden sollten diese Zahlen im Hinterkopf haben, wenn sie das nächste Mal das Schreckensgespenst der De-Industrialisierung Deutschlands an die Wand malen. Denn auch das zeigt die 44. Konjunkturumfrage des KI Dialogs sehr deutlich: Die Betriebe der deutschen Kunststoffindustrie sind sich ihrer unternehmerischen und gesellschaftlichen Verantwortung wohl bewusst – und sie agieren umsichtiger, nüchterner, rationaler und besonnener als so manch alarmistischer Parteigänger sich das wohl wünscht.

498 Teilnehmer, mehrheitlich aus der Kunststoffverarbeitung

Von Mitte Juni bis Anfang Juli 2023 waren die Abonnenten von „Kunststoff Information“ aufgefordert, ihre Geschäftsentwicklung im ersten Halbjahr 2023 Revue passieren zu lassen und ihre Erwartungen an die kommenden sechs Monate zu formulieren. Zudem sollten sie mitteilen, vor welche besonderen Herausforderungen sie sich gestellt sahen – und sehen. Die Beteiligung an dem 45. KI Dialog war hoch: Genau 498 KI-Abonnenten nahmen an der Umfrage teil. Zudem nutzten zahlreiche Teilnehmer die Möglichkeit, ihre Einschätzung von der wirtschaftlichen Entwicklung und ihre Sicht auf die Dinge in den Kommentarfeldern kundzutun. Wir dokumentieren diese O-Töne in Auszügen als Zwischentitel.

Wie schon in den Vorjahren kam das Gros der teilnehmenden Unternehmen aus Deutschland (76,5 Prozent), gefolgt von Österreich (8 Prozent) und der Schweiz (6 Prozent). Mit 53,6 Prozent ordnen sich die meisten Teilnehmer der Kunststoffverarbeitung zu. 8,6 Prozent sind Erzeuger und knapp 6 Prozent zählen zu den Recyclingunternehmen (zu deren offenbar besonders prekärer wirtschaftlichen Situation unten mehr). Mehr als 38 Prozent der Unternehmen beschäftigen zwischen 101 und 500 Mitarbeiter, bei jedem fünften arbeiten mehr als 500 Beschäftigte. Als klein (maximal 20 Mitarbeiter) können 13 Prozent der teilnehmenden Unternehmen gelten, und knapp jedes dritte fällt mit zwischen 21 und 100 Mitarbeitern in die Kategorie des typischen deutschen Mittelständlers.

Über die KI Group
Die KI Group versorgt mit den ihren Unternehmen Kunststoff Information Verlagsgesellschaft mbH, KunststoffWeb GmbH und Kunststoff-Profi Verlag GmbH & Co. KG bereits seit 1971 Führungskräfte in der deutschen und europäischen Kunststoffindustrie mit entscheidungswichtigen Business-Informationen. Zum aktuellen Leistungsspektrum gehören umfangreiche Online-Portale in deutscher und englischer Sprache, Print-Newsletter, die Fachzeitschrift K-PROFI sowie die offizielle deutschsprachige Messezeitung K-AKTUELL für die K und tagesaktuelle Besucherinformation K-PROFI täglich zur Fakuma. Das Angebot umfasst u.a. Kunststoffpreise (Kontrakt und Spot), Trading Reporte, Kapazitäten-Datenbanken, Markt- und Anwenderberichte, tägliche Nachrichten, E-Mail-Services sowie spezielle Analyse-Tools für Preisrecherchen und -vergleiche. Ergänzt wird es durch vielfältige Services in Consulting, Weiterbildung, Seminaren und Marktforschung rund um das Thema Kunststoffeinkauf. Die KI Group nimmt seit ihrer Gründung eine führende Position beim Thema Kunststoffpreise ein. Mit einem einzigartigen Netzwerk aus Produzenten, Distributoren und Verarbeitern hat sie engen Kontakt zu vielen Hundert Marktteilnehmern, um Preis- und Marktdaten zu ermitteln. Die KI-Preisindizes sind industrieweit akzeptiert und in die Gleitklauseln unzähliger Lieferverträge eingebunden. Mehr als 5.500 europäische Unternehmen vertrauen bereits den Daten und Berichten der KI Group.